Du hast Unrecht

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Dieser Gedanken läuft als sicher funktionierendes Lebensmittel bei jedem Konflikt in Form eines Untergrundprogramm. Ich habe Recht und, ganz logisch, musst du Unrecht haben. Wären wir nicht so versessen darauf, Recht zu haben - oder nein, besser: wären nicht die anderen so versessen darauf, Recht zu haben - dann würde es keine Konflikte mehr geben. Wie öd. Doch manchmal würden wir es uns wünschen, konfliktärmer mit unserer Umwelt umgehen zu können. Zum Beispiel wenn es heißt: »Wenn das nochmals geschieht, verlasse ich dich.«

 

Recht haben gründet auf der eigenen Meinung zu einer bestimmten Lage. Ich finde es richtig, also verteidige ich meine Ansicht. Nur - warum so hartnäckig und verkrampft?

Dafür ist es hilfreich, zu überlegen, woher meine Ansicht kommt, etwas wäre richtig. ›Du sollst nicht stehlen‹ kommt wahrscheinlich aus der Kirche, ›du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib‹ ganz sicher. ›Du sollst stillsitzen‹ kommt aus der Schule und ›du verstehst das eh nicht‹ wahrscheinlich aus irgendeiner Ecke des ehemaligen Zuhause. Es ist wirklich so, dass unsere Eltern und unsere Umgebung, als wir klein waren, uns einen großen Teil unserer Werte eingepflanzt haben. Und da sind sie nun und wachsen gemütlich vor sich hin. Manchmal wie Unkraut.

Es geht also beim Beurteilen von Situationen um unsere Werte; sie sagen uns, ob wir etwas ›gut finden‹ oder nicht. Diese Werte sind von Mensch zu Mensch verschieden und von Kultur zu Kultur. Dass Kinder bis Mitternacht fröhlich in der Gegen herumrennen, wird Südländer nicht stören. In unseren Breiten ist um neun Uhr Lichtaus. Denise kann Männern leicht vertrauen, Astrid hat damit ihre Probleme und es braucht einer lange, bis er ihr Vertrauen gewonnen hat. Kein Wunder, denn Denise hatte einen liebevollen und gütigen Vater, während der von Astrid ihre Mutter am laufenden Band betrogen hat und dann auch noch eines Tages verschwunden war.

In unserer Kindheit werden unsere Werte gebaut und den Rest unseres Lebens verbringen wir nach ihnen. Wir suchen unseren Job, unsere Wohnung und unseren Partner danach aus, beurteilen das Verhalten unserer Mitmenschen danach und verteifdigen die Werte mitunter bis aufs Messer - bis in die Kündigung hinein oder Scheidung. Die eine Seite ist also die, dass wir dem, was uns in jüngsten Jahren aufoktroyiert wurde, ausgeliefert sind. Nein, ausgeliefert scheinen. Denn Meinungen und die Werte dahinter kann man ändern. Das ist nicht einfach, soll jetzt nicht Thema sein, aber es ist machbar.

Dass wir standhafte Wertebesitzer sind ist die eine Sache und daran lässt sich nichts ändern - an der Tatsache, nicht an den Werten. Das andere Ding aber ist, warum wir so verbissen daran festhalten. Warum sind wir bereit, Beziehungen hinzuwerfen, die sich viele Jahre bewährt haben? Einen Job zu schmeißen, obwohl wir uns darin lange Zeit wohlgefühlt haben?

Ich glaube, Werte sind nichts Harmloses. Vielmehr denke ich, dass wir uns durch sie definieren. Wir sind die Summe unserer Werte, genau betrachtet. Umkehrschluss: Würden wir einmal in Gedanken alle Werte eliminieren, dann wären wir nichts. Weg. Ausradiert, nicht vorhanden. Wenn wir also unsere Werte sind, dann sind die schon etwas mächtig Zentrales. Wenn wir uns durch unsere Werte definieren, kann man sagen, dass wir unsere Werte sind und unsere Werte sind wir.

Wenn jemand anderer Ansicht ist, dann ist das kein Geplänkel, sondern ein Kriegsakt. Der signalisiert unserem Unterbewusstsein: »Hey, da ist jemand, der dich angreift. Verteidige dich!« Da unsere Ansicht kein lose umherflatternder Wimpel ist, der unbemerkt hinten am Ärmel hängt, sondern ein Teil von uns wie ein mentales Organ, gehen wir auf der Stelle in Verteidigung. Es steht schließlich unsere Essenz auf dem Spiel. Da will mir jemand ein Loch ins Knie bohren, das lasse ich nicht zu!

Mehr noch: Wenn jemand sagt: »Du hast Unrecht«, dann signalisiert er untergründig zusätzlich: »Du bist nicht richtig. Nicht gut; du bist falsch.« In Null­kom­ma­nichts sind wir in einen Kleinkrieg verwickelt. Bei diesem Krieg geht es um unsere Anteile, also Werte. Das Skurrile dabei, dass sie in Wirklichkeit oft gar nicht unsere sind. So verteidigen wir vielleicht etwas, das unsere Eltern so sehen, wir aber in Wirklichkeit gar nicht. Nur haben wir es versäumt, uns von nicht mehr gültigen Werten zu verabschieden. Oder: wir haben es versäumt, uns ganz bewusst eigene Werte zu bilden. Bekanntemaßen ist ja Nachfolge einfacher als Meinungsbildung, die nicht selten Konsequenzen nach sich zieht.

Rechthaben ist deshalb oft schmerzhaft, weil uns zwischen den Zeilen mitgeteilt wird: »Du bist nicht gut so, wie du bist.« Im Schlepptau schleift diese Aussage die Angst, nicht (mehr) geliebt zu werden, hinter sich her. Und nicht geliebt werden ist gleichbedeutend mit dem Entzug der Lizenz zum Leben. Was für einen Rattenschwanz nicht eine so kleine Bemerkung wie »Was du sagst, ist nicht richtig« in ihrem Nikolaussack verborgen hält.

Ich finde, es gibt auf beiden Seiten Handlungsbedarf: Auf der des Wertenden, denn die Werte müssen nicht richtig sein. Im Gegenteil ist die Wahrscheinlichkeit des Gegenteils nicht gering. Und außerdem haben solche Aussagen viel Tiefenwirkung für den Adressaten in sich, dessen man sich immer bewusst sein sollte.

Für den Betroffene ist es eine Herausforderung, der Angriff wird nämlich umgehend vom so schnellen Unterbewusstsein wahrgenommen. Also wird zuerst vorbeugend Adrenalin ausgespuckt und danach gedacht. Auf jeden Fall aber ist Betroffenheit ein Signal für Resonanz. Und der nachzugehen sollte man nie versäumen. Es ist auf jeden Fall hilfreicher, mit den eigenen Emotionen zu arbeiten, sie als Gefährten auf dem Weg zur Lösung willkommen zu heißen, als, wie üblich, den andern so zu trimmen, dass er unseren Werten entspricht. Damit machen wir nämlich mit dem Gegenüber dasselbe, was uns verletzt. Und lernen weder uns kennen, noch nehmen wir die Gelegenheit wahr, die eigenen Werte zu korrigieren.

 

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