Missverstandenens Drama
Unser Leben ist durchzogen von Dramen wie ein gut gespickter Rinderbraten. Mit allem Angenehmen, das uns begegnet, ist es schon vorprogrammiert: Das Angenehme kann uns nämlich wieder verlassen. Wie kann man also Drama von seinem Leben fernhalten? Ganz einfach: Nicht verlieben, keinen interessanten Job anfangen, an keinen schönen Ort ziehen - schlicht einfach immer so leben, dass es nur besser werden kann. Scherz - oder? Ja, Scherz.
Das würde bedeuten, nichts Schönes in unser Leben zu lassen, bloß um die Enttäuschung des Verlusts dessen zu vermeiden. Damit erreichen wir aber nicht, unter keinen Verlusten zu leiden, sondern einen ständig niedrigen Lust-Level. Das will niemand wirklich, glaube ich.
Vielleicht geht es aber leichter mit einem Beispiel.
Stefan und Carola sind seit 27 Jahren ein Paar. Bevor sie - sie mit 19, er mit 21 - geheiratet hatten, war mit dem anderen Geschlecht wenig gewesen. Er hatte sich erst nach 20 gemausert, war vorher etwas pummelig gewesen, wodurch er für Mädchen nicht interessant war. Bei ihr war es die strenge Erziehung, die ihre Jungs-Bekanntschaften auf moderatem Level hielt. Mit anderen Worten waren sie sich gegenseitig jeweils nahezu der erste Partner. Heute wohnen sie in einem Häuschen am Stadtrand, er geht seinem Job als Bauingenieur nach, sie arbeitet seit zwei Jahren in einer Großhandelsfirma als Buchhalterin. Den Job hatte sie dank Beziehungen bekommen, denn mit knapp 50 ist das nicht so einfach. Sie haben alles, was man sich wünschen kann. Die Tochter mit 26 hat im Ausland einen Job als Übersetzerin und der Sohn mit 24 ist IT-Spezialist und in eine Großstadt gezogen. Abbezahltes Haus, zwei Autos, er verbringt viel Zeit bei seinem Modellbau-Verein und sie ... denkt sich immer öfters, ob das nun alles war. Sie denkt sich das schon länger, seit rund fünf Jahren, um genauer zu sein. Öfters hat sie ihn drauf angesprochen, doch seine Antwort lautete immer: »Was willst du denn? Ist doch alles perfekt.« Und in letzter Zeit ergänzt um: »... und Job hast du jetzt auch einen.«
Mittlerweile hat das auf die Stimmung geschlagen. Sie hat schon einige Seminare besucht, zu Beginn zwei für Sprachen, eines für Handwerken, aber dann änderte sie die Richtung. Sie besuchte Familienaufstellungen, ein Atemseminar, machte den ersten Reiki-Kurs und ein paar Kurse von einem Stimmtrainer, der Singen und Stimme zu einem Selbsterfahrungspaket geschnürt hatte. Ein interessanter Mann, wie sie Stefan ein paarmal erzählte, was er mit leicht abfälligem Schnauben zu Kenntnis nahm - ein Eso-Spinner. Aber wenn sie das glücklich machte, sollte es ihm recht sein.
Aber es machte sie nicht nur glücklich, sondern ein bisschen sehnsüchtig und sie fand den Stimmlehrer auch sympathisch und einfühlsam. Also buchte sie bei ihm eine Stimmerfahrungswoche auf Kreta im späten Mai. Stefan fühlte sich verraten und war sauer. Das war er schon länger, vor allem immer dann, wenn sie mit ihren neuen Interessen daherkam, diesem irrealen Kram. Seit einiger Zeit hatte er einen unangenehm lauten Tinnitus, ein Pfeifen und Sausen, dass er sich manchmal richtig konzentrieren musste, wenn er sich mit einem Bauherrn oder Professionisten besprach. Sie war in letzter Zeit häufig erkältet, hatte häufig Husten und Halsschmerzen.
Am Ende der Woche auf Kreta, nachdem Carola ein paarmal die Nacht mit Georg, dem Stimmexperten, verbracht hatte, meinte der Experte, ob sie nicht mit ihm zusammenarbeiten wollte. Er hätte sich immer schon seine Arbeit gemeinsam mit einer Frau gewünscht und sie hätte eine speziell schöne Stimme.
Als Carola bald darauf Stefan mitteilte, sie wolle den Stimmfachmann bei einem seiner Seminare unterstützen, wurde Stefan endgültig hellhörig. Bei dem folgenden Streit erzählte sie von ihrem Verhältnis und er gestand nach längerem Bohren ihrerseits, dass er sich in die Schriftführerin des Vereins verguckt hätte; aber geschehen wäre nichts, Ehrenwort. Er verbrachte seine schlaflose Nacht im leeren Ehebett und sie auf dem Bett im Gästezimmer. Tagsdarauf wurde von Trennung gesprochen. Was keinem von beiden auffiel war, dass ihre Halsschmerzen nachgelassen hatten und sein Tinnitus schwächer geworden war. Innerhalb eines Tages.
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Bei diesem Beispiel gibt es eine ganze Menge Faktoren, aufgrund derer Tinnitus und Halsprobleme noch harmlose Körperreaktionen sind. Vielleicht hatte Carola deshalb so wenig Symptome, weil sie wenigstens einem Beruf nachging und Kurse nach ihrem Interesse besuchte. Trotzdem das Leben zweier Menschen, die in einer Art nebeneinander herleben, die Spannungen erzeugt. Dass sich die körperlich bemerkbar machen, ist eine ganz logische Folge: Spannungen bedeuten Widerstand gegen einen Fluss. Und solcher Widerstand, so stärkend er in kurzen Impulsen auch sein mag, deformiert bei längerem, gleichbleibenden Bestehen. Kopfstand ist gesund für kurze Zeit. Ständiger Kopfstand hätte wahrscheinlich irreparable physische Folgen.
Carola und Stefan suchen nun in klassischer Weise den Fehler beim anderen und kommen zum Schluss, dass sie einfach zu verschieden wären, sich halt im Lauf der Zeit auseinandergelebt hätten. Mag sein. Auf jeden Fall wäre eine Trennung eine Option, um den akuten Druck loszuwerden und die körperlichen Symptome werden wahrscheinlich vergehen, wenn sie nur von diesem Druck abhängen.
Es gibt aber noch einen zweiten Weg, mit der Lage umzugehen und das wäre ein gegenseitiges und eigenes Kennenlernen. Sie bräuchte sich nicht mehr den Hals wundreden und er bräuchte keine Störgeräusche mehr auszuhalten. Auf jeden Fall können Carola und Stefan in Wirklichkeit froh sein, dass durch ihr Verhältnis zu Georg die verdeckten Spannungen thematisiert wurden. Nur nutzt diese Gelegenheit kaum jemand, weil die Verletzung im Vordergrund steht und mit ihr Rache- und Vergeltungsgelüste. Zahn um Zahn und so.
Jedes Drama - oder Leid - das uns widerfährt, wirklich jedes, hat einen tieferen Sinn. Wie in diesem Fall haben wir immer zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Vermeidung, also Flucht, oder die Bereitschaft, die Botschaft zu entschlüsseln, die das Drama/Leid transportiert. Bei der Vermeidung, also zum Beispiel Partnerwechsel oder Jobwechsel, weil man mit den andern nicht klarkommt, besteht aber die Gefahr, dass sich dasselbe wiederholt. Denn bei der Flucht wurde unter umständen nicht entschlüsselt, was die Situation mitteilen wollte.
Das bedeutet aber nicht, unbedingt in einer Leidenssituation zu verharren! Im Gegenteil geht es darum, sie zu bereinigen. Ob die richtigere Wahl Vermeidung oder Konfrontation ist, sollte man von Mal zu Mal über die Wahrnehmung prüfen.
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